Flüchtlingsunterkünfte und Integration als neues Feld für die Raumentwicklung – Erkenntnisse des plan:team-Webinars
Die Schaffung von Unterkünften für Geflüchtete ist ein behördlicher, politischer und vor allem raumplanerischer Kraftakt. Gerade, wenn so viele Menschen innert kurzer Zeit in die Schweiz kommen, wie seit Beginn des Ukraine-Krieges. Doch es existieren (sozial-)räumliche Konzepte für mittel- bis langfristige Lösungen, von denen ganze Quartiere profitieren können. Und für die Raumplanung könnte sich schon bald ein neues Feld eröffnen.
Gegen 52’000 Menschen sind seit Beginn des Ukraine-Krieges in die Schweiz geflüchtet – vor allem Frauen und Kinder. Insbesondere diese brauchen neben Wohnraum auch Freizeit- und Bildungseinrichtungen. Im jüngsten Webinar von plan:team wurde diskutiert, wie wir das als Planer:innen und Behörden schaffen. Referentinnen aus verschiedenen fachlichen Perspektiven nahmen sich dieser Fragen an.
Breite Palette an Unterkünften
In ihrem Referat hielten die plan:team-Praktikantinnen Kim Gvozdić und Saideh Moshayedi fest, dass die (sozial-)räumlichen Auswirkungen von Unterkünften und die entstehenden Dynamiken aufgrund der Lage unterschiedlich sind. Liegen sie im Grünen oder an Orten, die bereits dicht besiedelt sind, kann dies entweder zu einer «Ghettoisierung» führen oder den Bedarf an Schulraum deutlich erhöhen. Solche Fragen zum räumlichen Kontext von Flüchtlingsunterkünften und zum Zusammenspiel von Raumnutzung und Integration tauchten im Verlauf des Webinars immer wieder auf.
Ausserdem zeigten Saideh Moshayedi und Kim Gvozdić auf, dass derzeit diverse Organisationen mit der Unterbringung Geflüchteter beschäftigt sind und dass bisher sowohl in staatlichen Einrichtungen wie Zivilschutzanlagen oder Containersiedlungen als auch in Privathaushalten und -Liegenschaften sowie Hotels temporärer Wohnraum gefunden wurde. Mit einer guten und vorausschauenden (räumlichen) Planung könnten Städte und Gemeinden jedoch mit der Migration und deren Folgen umgehen.
Die Präsentation von Kim Gvozdić und Saideh Moshayedi gibt’s hier.
Wichtig: Lern- und Spielräume für geflüchtete Kinder
Dem Thema Bildungs- und Integrationsräume für geflüchtete Kinder hat sich bereits vor einigen Jahren Selina Lutz angenommen. Dabei hat sie festgestellt, dass geeignete Lernräume für Kinder in den heutigen Anlagen oft fehlten, da die Räumlichkeiten anderweitig gebraucht werden. «Dabei ist der Zugang zu Bildung gerade für geflüchtete Kinder speziell wichtig. Sowohl für den späteren individuellen Werdegang als auch für die Integration», betonte sie die Wichtigkeit entsprechender Infrastruktur. Selina Lutz ist Leiterin des Projekts «Motirō – Modulare Lern- und Spielwelten für geflüchtete Kinder». Getragen wird das Projekt vom Kompetenzzentrum Typologie & Planung in der Architektur (CCTP) der Hochschule Luzern.
Mit dem Durchgangszentrum Biberhof im Kanton Schwyz stellte Selina Lutz ein Projekt vor, wo genannte Mängel behoben werden konnten. Bereits 2019 wurden hier modulare Lern- und Spielwelten für Kinder eröffnet. Aus planerischer Optik ist «Motirō» insofern interessant, als dessen Konzept betreffend Nutzungsvielfalt für jeden Ort individuell gestaltet und in die Planung bestehender und künftiger Zentren für Asylsuchende integriert und später zum Beispiel für eine Kita genutzt werden kann.
Private Unterbringung rettet kantonale Behörden
Die Sicht der Behörden brachte Pia Maria Brugger Kalfidis, Leiterin Unterabteilung Asyl des Kantons Aargau, ein. Demnach stellt der Ukraine-Krieg aufgrund des Ausmasses der Flüchtlingszahlen eine spezielle und kaum vergleichbare Situation dar. «Die Frauen und Kinder brauchen eine andere Infrastruktur als junge Männer, die bisher mehrheitlich in den Unterkünften lebten», erklärte sie.
Im Kanton Aargau seien derzeit 73 Prozent der Geflüchteten privat untergebracht. «Das hat uns gerettet. Sonst wären wir in ein komplettes Desaster gelaufen.» In nächster Zeit würden jedoch viele Geflüchtete in eigene Wohnungen oder in kantonale Unterkünfte ziehen.
Raumplanerische Prozesse als Herausforderung
Die Abteilungsleiterin sprach auch die Herausforderungen der langen Prozesse bis zur Realisierung der kantonalen Unterkünfte an. «Es braucht fast immer eine Baubewilligung und je nachdem in welcher Zone eine Unterkunft eingerichtet werden soll, kann es schwierig werden.» In der Praxis würden solche Anlagen meistens in der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen (ÖBA), in der Wohn- und Arbeitszone platziert.
«Das wichtigste ist aber, dass die Projekte von einer Exekutivpolitikerin oder einem Exekutivpolitiker unterstützt werden. Dann gibt es in der Bevölkerung eine höhere Akzeptanz für Asylunterkünfte. Es ist aber gerade politisch ein ziemlicher Kraftakt.» Deshalb gilt es laut Pia Maria Brugger Kalfidis bei der Planung von mittel- und längerfristigen Asylzentren auch die Auswirkungen auf den Sozial- und die Aussenräume sowie städtebauliche Aspekte adäquat zu berücksichtigen.
Die Präsentation von Pia Maria Brugger Kalfidis gibt’s hier.
«Schwellenräume» als solche gestalten
Eine aus Sicht der Raumplanung eher ungewohnte Perspektive nahm Rebekka Ehret ein. Sie ist Ethnologin und Dozentin an der Hochschule Luzern, wo sie unter anderem im Bereich Migration, Integration und interkulturelle Kommunikation lehrt und forscht. Für Rebekka Ehret stellen Asylzentren einen «Schwellenraum» dar, wo sich die Menschen aufhalten, bis sie wissen, welche Möglichkeiten sie in Zukunft haben. Gehen sie zurück in die alten Strukturen, oder beginnen sie ein neues Leben an einem neuen Ort?
Dieser Übergangscharakter sollte folglich bei der Gestaltung solcher Räume berücksichtigt werden. Eine zu üppige und aufwendige Gestaltung könne nämlich fälschlicherweise suggerieren, dass es sich bei den Unterkünften um «richtige» Orte handelt. Wie eine solche Gestaltung konkret umgesetzt werden kann, sei die Aufgabe der Planer:innen.
Für Rebekka Ehret (in Anlehnung an Stephanie Weiss) stellen Unterkünfte für Geflüchtete sogenannte «Nicht-Orte» gemäss dem Anthropologen Marc Augé dar. Dabei handelt es sich um Orte ohne Identität und Geschichte sowie einer kommunikativen Sprachlosigkeit. «Die Flüchtlingsunterkünfte sind per se solche Orte, da die Leute sich nur dort aufhalten, weil das staatliche Asylverfahren dies so vorsieht», erklärte sie.
Sie stützte sich dabei unter anderem auf ihre Forschungserfahrungen in Sierra Leone, wo Schwellenräume eine wichtige soziale und kulturelle Funktion einnehmen. So werden die jungen Menschen dort beim Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter virtuell und räumlich in neue soziale Räume transferiert. Dafür werden ausserhalb der Dörfer zum Beispiel Hütten gebaut, wo sie sich eine gewisse Zeit aufhalten müssen, bevor die jungen Menschen dann in neue Räume übertreten. «In diesen Schwellenräumen herrscht bewusst eine gewisse soziale nichtfixierte Ordnung», zog Rebekka Ehret den Vergleich zu den hiesigen Unterkünften.
Die Präsentation von Rebekka Ehret gibt’s hier.
Räumlicher Kontext und Mehrwert für die Quartiere
Als «Transitorte oder Warteräume» versteht die Durchgangszentren auch Anne Fabritius, Architektin und Mitglied des Vereins «Architecture for Refugees Schweiz». Im Webinar hob sie die räumlichen Potenziale solcher Einrichtung hervor, die durch eine gezielte Vernetzung, Öffnung, Integration in die Umgebung sowie gemeinsame Begegnungs- und Aussenräume bis hin zu Gemeinschaftsprojekten zwischen Geflüchteten und Quartierbewohner:innen entstehen können.
Anne Fabritius plädierte folglich dafür, dass bauliche und andere trennende Elemente entfernt oder überwunden werden. Denn diese würden Skepsis erzeugen, statt den Zusammenhalt im Quartier zu fördern und seien so bisweilen dem Sicherheitsgefühl der Anwohner:innen abträglich. Für Anne Fabritius ist aber klar, dass die Quartierbewohnerschaften durch entsprechende Formen der Partizipation miteinbezogen werden müssen, um Durchgangszentren im Sinne des Quartiers neu zu kontextualisieren. Wie das passieren könnte, skizzierte sie anhand eines konkreten Projektes in Adliswil (ZH).
Neues Asylverfahren als Chance für die Raumentwicklung
Dass so bereits früh die Integration gefördert werden kann, ist auch in Pia Maria Brugger Kalfidis’ Sinn, wie sich in der Plenumsdiskussion zeigte. Die Frage mehrerer plan:team-Mitarbeiterinnen, ob der Raum rund um die Unterkünfte gegenwärtig tatsächlich ansprechend gestaltet wird, verneinte sie aber. «Dafür fehlen meistens die Ressourcen und die Zeit. Auch bräuchte es dafür entsprechende Erfahrung.»
Dennoch hielt Pia Maria Brugger Kalfidis zum Schluss fest, dass in der Schweiz diesbezüglich etwas gehe. «Das Asylwesen ist dank der neuen Verfahren heute nicht mehr so stigmatisierend, führt zu grösserer Akzeptanz und langfristig besseren Lösungen. Auch wenn es im Moment hauptsächlich darum geht, kurzfristig Wohnraum zu schaffen.»
In anderen Worten: Für die Raumentwicklung sowie die Frei- und Grünraumraumplanung könnte sich schon bald ein neues Feld eröffnen.
Text: Claudio Birnstiel